1916 – Patriotismus und Butterkrawalle

schreibmanufaktur

27/11/2022
1916 - Patriotismus trieb die Männer in den Krieg, Hunger und Sorge um das tägliche Brot die Frauen in die Butterkrawalle. Ein kleiner Einblick in meine Recherchen zum Projekt "Die Väter der Kriegskinder".

1916 – Patriotismus und Butterkrawalle

1916 tobte der Krieg außerhalb der deutschen Grenzen. Während andernorts Häuser, Gärten und ganze Landstriche vernichtet wurden, musste man sich hierzulande zumindest keine Sorgen um das fehlende Dach überm Kopf machen. Doch sorgenfrei war das Leben keineswegs. Es war beherrscht von der Angst um Väter, Brüder und Söhne, die Patriotismus und Kaisers Wille in sinnlose Schlachten getrieben hatte. Und vom Kampf um das tägliche Brot, das Mangelware und nahezu unbezahlbar war.

Während Ludwig, Maries Bruder, anstatt zu studieren, nach bestandenem Abitur die Schulbücher weg- und die Uniform anlegte, um an einer derjenigen Schlachten am Isonzo in Italien teilzunehmen, die später mit über einer Million getöteten, verwundeten und vermissten Soldaten zu den verlustreichsten des Ersten Weltkriegs in die Geschichte eingehen würden, legte Heinrich Eduard, Maries Ehemann und Hofgärtner beim Großherzog von Hessen, die Gartenschere beiseite und tat ebenfalls das, was man nun mal als seine Pflicht erachtete.

Überlegungen der Daheimgebliebenen im Sinne von „was koche ich morgen“ waren längst der Frage „was kann ich überhaupt noch kochen“ gewichen. Die Steck- oder auch Kohlrübe erlangte traurige Berühmtheit, war sie im Hungerwinter 1916/1917 doch verhasstes Hauptnahrungsmittel. Not macht bekanntlich erfinderisch und so entstanden Steckrübenmarmelade, Steckrübenkotelettes, Steckrübenkuchen, Steckrübenbrot, Stückrübenkaffee und vieles mehr. Wer diese Zeit erlebt hat, berichtete später, ihm sei alleine vom Geruch schon übel geworden.

Seit 1915 mehrte sich in vielen Städten der Widerstand. Empörte Menschen protestierten lautstark vor den Lebensmittelgeschäften angesichts der sich ständig erhöhenden Lebensmittelpreise. In den sogenannten Butterkrawallen machten vor allem Frauen ihrem Ärger Luft. In einem Berliner Polizeibericht heißt es beispielsweise im Oktober 1915: „Treibende Kraft bei diesen Ausschreitungen waren neben aufgeregten, schlecht gesinnten älteren Frauenpersonen im Wesentlichen junge Burschen mit jungen Frauenzimmern“ (Quelle: Kellerhoff: Heimatfront: Der Untergang der heilen Welt, S. 187).

Im Juni 1916 beschreibt ein Hungerflugblatt die drastische Situation:

Was kommen mußte, ist eingetreten: Der Hunger!
In Leipzig, in Berlin, in Charlottenburg, in Braunschweig, in Magdeburg, in Koblenz und Osnabrück, an vielen anderen Orten gibt es Krawalle der hungernden Menge vor den Läden mit Lebensmitteln. Und die Regierung des Belagerungszustandes hat auf den Hungerschrei der Massen nur die Antwort: Verschärften Belagerungszustand, Polizeisäbel und Militärpatrouillen. […]
Auf das Verbrechen der Anzettelung des Weltkriegs wurde ein weiteres gehäuft: die Teuerung tat nichts, um dieser Hungersnot zu begegnen. Warum geschah nichts? Weil den Regierungssippen, den Kapitalisten, Junkern, Lebensmittelwucherern der Hunger der Massen nicht wehe tut, sondern zur Bereicherung dient. […]

Man kann noch ein halbes Jahr, vielleicht ein ganzes Jahr Krieg führen, indem man die Menschen langsam verhungern läßt. Dann wird aber die künftige Generation geopfert. Zu den furchtbaren Opfern an Toten und Krüppeln der Schlachtfelder kommen weitere Opfer an Kindern und Frauen, die infolge des Mangels dem Siechtum verfallen.

(Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung / Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellungen, Bd. 8, S. 415f.)

Übrigens: Während des 1. Weltkriegs starben alleine in Deutschland rund 750.000 Menschen an Unterernährung bzw. an deren Folgen.

Auch heute sterben täglich Menschen an Hunger und Mangelernährung. 2022 die meisten im Jemen lt. Statista 2022. Von Butterkrawallen und ähnlichem hört man jedoch nichts. Wir sollten genauer hinschauen, wo echte Not herrscht, wenn wir das nächste Mal über Preiserhöhungen klagen.

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