Rief man in den 90er Jahren lautstark: „Kevin!“, über den Spielplatz, erntete man von etwa der Hälfte der anwesenden Rabauken mehr oder weniger begeisterte fragende Blicke. Heute funktioniert das mit dem Ruf nach Luka und Maximilian bei den zehnjährigen Jungs bzw. Emma und Hannah bei den fünfjährigen Mädchen. Der gesuchte Sprössling ist garantiert dabei, trägt er einen der aktuell bevorzugten Vornamen. Vor etwa hundertzwanzig Jahren galt das zumeist für Heinrich, Wilhelm, Anna oder Martha, wenn sich diese Kinder auch nicht auf ausgewiesenen Spielplätzen aufhielten.
Die Familien meiner Recherchen trieben mich mit ihrer Namensgebung gelegentlich in tiefste Verzweiflung. Denn sie benannten ganze Heerscharen von Kindern nahezu identisch. Der Vater Johann Peter, der Sohn Johann Georg, dessen Sohn ebenfalls Johann Georg – in dem Fall dann „der Zweite“ – gefolgt von einem Johann Friedrich. Und erst die Heinrichs und Ludwigs! Über Generationen hinweg trugen sie die Namen ihrer Vorfahren – zu deren Ehren oder der Einfachheit halber oder vielleicht eine Kombination aus beidem.
Den Mädchen erging es kaum anders. Starb eine Anna Margarethe Katharina, erhielt das nächste weibliche Familienmitglied einfach den/die Namen der Vorgängerin. Es kam durchaus vor, dass drei Anna Margarethe Katharinas aufeinander folgten (innerhalb einer Generation!), die man heute nur noch durch das Geburtsdatum auseinander halten kann. Denn im Gegensatz zu den Jungs wurden die Mädchen nicht durchnummeriert.
Hilfreich beim Entwirren solcher Familiengeflechte sind die Eintragungen der Standesämter, sofern man sie findet. Denn glücklicherweise sorgte ab 01. Oktober 1874 das „preußische Gesetz über die Beurkundung des Personenstandes und die Form der Eheschließung“ in Preußen und zum 01. Januar 1876 im gesamten Deutschen Reich dafür, dass extra bestellte Beamte fortan (mehr oder weniger leserlich) sämtliche Geburten, Heiraten und Todesfälle in offiziellen Standesamtsregistern erfassten. Und da man vermutlich ahnte, dass derlei Eintragungen zu Verwechslungen führen konnten, vermerkte man in weiser Voraussicht bei Hochzeit und Tod auch gleich die Namen der Eltern und deren Wohnorte. Dank dieser Informationen lassen sich etliche Anna Margarethe Katharinas, Johann Georgs, Heinrichs und Ludwigs dann doch eindeutig zuordnen.
Dennoch ist es ein recht mühsames Puzzlewerk, denn die Familien in meinem Fokus hatten teilweise sehr viele Kinder. Nicht wirklich verwunderlich, schließlich war das in früheren Zeiten normal – oder nicht? Doch irgendwann änderte sich das in all „meinen“ Familien innerhalb der gleichen Generation und ich fragte mich, was diese Wandlung verursacht hatte. Und erfolgte sie gesellschaftsübergreifend zur gleichen Zeit? Ich suchte nach Antworten und erlebte Überraschungen.
Der Bäckermeister Johann Georg (der Erste) aus Groß-Zimmern hatte sechs Geschwister. Im Jahr 1834 heiratete er die einundzwanzigjährige Elisabeth Katharina, die ihm bis 1857 zwölf Kinder gebar. Zwei Tage nach der Geburt des letzten Kindes starb die Bedauernswerte, der kleine Johann Bernhard überlebte sie lediglich um nicht einmal zwei Wochen.
Zwar hatte die Familie zu diesem Zeitpunkt bereits vier Kinder verloren, doch knapp 100 Jahre vorher hätten sogar nur ein bis zwei Kinder überlebt. Tatsächlich ist dieser Kinderreichtum – oder besser die hohe Zahl der überlebenden Kinder – ein Phänomen des 19. Jahrhunderts. Hier unterlag die Ehe keinen Beschränkungen mehr und durfte frei geschlossen werden. Die fortschreitende Industrialisierung ermöglichte neue Einkünfte und bescherte zumindest einem Teil der Bevölkerung bescheidenen Wohlstand. Kinder galten allerdings noch als Zuverdiener, auf die man nicht verzichten konnte. 1839 wurde jedoch das sogenannte „Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter“ verabschiedet und Kinder unter neun Jahren durften nicht mehr regelmäßig in Fabriken und Bergwerken beschäftigt werden. Sie stellten nun eher einen Kostenfaktor anstatt des nötigen Einkommensgenerators dar und waren somit in großer Zahl nicht mehr erwünscht. Der Trend zur Kleinfamilie setzte sich nach und nach durch, wenn auch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit in Städten und auf dem Land.
Betrachtet man die Bevölkerungsentwicklung, stellt man fest, dass das Phänomen des Kinderreichtums gerade einmal einhundert Jahre lang währte. Und zwar ausgerechnet in dem Zeitraum, dem ich meine Aufmerksamkeit schenke. Das Entwirren der verschiedenen Johann Georgs und Anna Margarethe Katharinas wird mich noch eine Weile beschäftigen.
Übrigens: eine Tochter besagten Bäckermeisters war die Großmutter von Marie und Ludwig. Die gesamte Familie ist ein Spiegelbild ihrer Zeit und eine Fundgrube spannender Geschichten und Entwicklungen – perfekt für meine „Väter der Kriegskinder“.