„Nun, liebe Kinder, gebt fein acht, ich hab‘ euch etwas mitgebracht…“ Dies ist meine Erinnerung an den Sandmann, genauer an das West-Sandmännchen, meinem allabendlichen Fernseh-Ritual Anfang der 70er Jahre vor dem Zubettgehen. Im Westen lauschten Scharen von Kindern den Sandmännchen-Geschichten um Piggeldy und Frederick, während die Kleinen im Osten den Reisen „ihres“ Sandmännchens in ferne Länder oder ins Weltall folgten. Egal ob West oder Ost, am Ende schickte uns der Sandmann mit einer Handvoll Schlafsand ins Reich der Träume.
Beschäftigt man sich einmal näher mit Geschichte und Herkunft des Sandmanns, stellt man fest, er war nicht immer der liebe, nette Wichtel mit Rauschebart, Sternenstaub und einem Säckchen voller schöner Träume. Es gab auch recht garstige Sandmann-Versionen, mit denen man in früherer Zeit manches Kind in Angst und Schrecken versetzte, war es tagsüber nicht brav oder wollte abends nicht schlafen.
Verleger und Autor Hans-Georg Sandmann hat sie bei seinen Recherchen nach dem Sandmann als allgemeinem deutschen / europäischen Kulturgut ausgegraben. Und noch vieles mehr!
So entdeckte er beispielsweise, dass in Dänemark Richter, die nach jütischem Recht ab 1241 n. Chr. berufen wurden, die Bezeichnung „Sandmänner“ trugen. Was natürlich nichts mit dem Sand, den unser Sandmännchen verstreute, zu tun hatte, sondern mit der Bedeutung des Wortes Sand im Dänischen – nämlich wahr und wahrhaftig. Die Sandmänner waren demzufolge der Wahrhaftigkeit verpflichtete Männer. Wer hätte das gedacht!?
Während im Norden die Sandmänner Recht sprachen, leisteten im Süden weitere Sandmänner des ausgehenden Mittelalters wahre Knochenarbeit. Denn feiner Sand erfreute sich mittlerweile großer Beliebtheit in der Medizin, im Haushalt und in den Schreibstuben. Bis dahin legte er jedoch einen weiten Weg zurück – vom Sandschürfen über das mühevolle Zerhauen und Zerbröseln zum pulverfeinen Utensil, das unter härtesten Bedingungen in die Haushalte geliefert wurde. Auch über diese Knochenarbeit berichtet uns Hans-Georg Sandmann und lädt uns mit ausführlichen Quellenhinweisen ein, noch ein wenig mehr über Leben und Leiden der Sandmännchen und –weibchen zu erfahren und dabei durchaus Vergleiche mit den Arbeitsbedingungen weniger privilegierter Arbeitnehmer:innen unserer Zeit anzustellen.
Als ich auf dem Maimarkt 2019 erstmals einen kleinen Vortrag Hans-Georg Sandmanns über die Richter, Knochenarbeiter:innen und Fabelwesen hörte, staunte ich sehr. Dieses bemerkenswerte Buch wird nicht nur Sandmännchen-Nostalgikern gefallen, sondern jeden Geschichtsinteressierten fesseln. Versehen mit etlichen sozialkritischen Anmerkungen hat Hans-Georg Sandmann vieles ans Tageslicht gebracht, was lange Zeit vergessen war oder unbeachtet in den Tiefen von Morpheus‘ Reich schlummerte.
Auf knapp 125 Seiten inklusive 175 spannenden Kommentaren, gebunden in purpurnes Leinen mit goldgeprägtem Titel, informiert und unterhält er uns gleichermaßen über die wahre Geschichte des Sandmanns. Ein Buch zum Nachdenken, zum Vertiefen, schön zu lesen und schön in seiner Gestaltung. Ein echtes Kleinod.
Von Richtern, KnochenbrecherInnen und Fabelwesen – Die wahre Geschichte des Sandmanns
ISBN 978-3-926150-39-4, erhältlich über
Quadrate TV Verlag
Evelyn und Hans-Georg Sandmann
G 7, 35
68159 Mannheim
Telefon: 0621 – 15 67 370
e-Mail: hans-georg_sandmann@web.de
Eine weitere Leseempfehlung aus dem Verlag: "Nachtzeit – Erzählungen aus Traum und Wirklichkeit"