Ich habe es nicht so mit Traditionen. Die, die wir daheim pflegen, lassen sich vermutlich an einer Hand abzählen. Und man wird nicht einmal alle hierfür vorgesehenen Finger brauchen. Bei uns gibt es zum Beispiel weder Geburtstagskerzen (der Anzahl an Kerzen geschuldet) noch die dazugehörige Torte (wobei wir Torte wirklich gerne essen). Erst recht keine Weihnachtsbäume(zerstörerische Katzen) oder gar Gänsebraten am 1. Weihnachtsfeiertag.
Stattdessen frage ich mich, warum man Vanillekipferl eigentlich nur in der Adventszeit isst. Mehl, Zucker, Eier, Puderzucker, Mandeln und Vanille werden doch ansonsten auch ganzjährig in Kuchen und Desserts gerührt? Weil man mit diesen Keksen ausschließlich Weihnachtsbackorgien aus Kindertagen mit Mama verbindet? Ich muss gestehen, dass mir solche Erinnerungen fehlen. Obwohl meine Mutter eine gefeierte Kuchen-und Plätzchenbäckerin war, deren Weihnachtsgebäck das ihrer Schwiegermutter angeblich bei weitem übertroffen haben soll.
Vermutlich hängt es damit zusammen, dass besagte Zutaten früher eine Kostbarkeit darstellten, die man sich daher nur an besonderen Festtagen gönnte. Das betrifft die Generation unserer Großmütter (in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts geborenen) und Mütter (den sog. Kriegskindern, geboren kurz vor oder im 2. Weltkrieg). Nachfolgende Generationen pflegen nun einmal solche Traditionen – oder brechen mit ihnen. Wie ich, die darüber nachdenkt, ob sie nicht auch im Sommer Vanillekipferl backen sollte. Statt Muffins oder Cookies.
Früher waren mir solche Traditionen wichtiger. Am 2. Weihnachtsfeiertag beispielsweise gab es Mamas Wurstsalat. Und ohne den war Weihnachten für mich auch bis zu ihrem Tod vor einigen Jahren unvorstellbar. Danach schmeckte er einfach nicht mehr so, wie er schmecken sollte und verschwand vom Weihnachtsspeisezettel.
Doch an Silvester 2019 wurde er erneut zum Leben erweckt und gehört seitdem wieder fest zum Weihnachts- oder Silvesterspeiseplan. Und zwar genauso, wie ihn Mama einst zubereitete. Dieser Wurstsalat wird es nie in einen der heutigen Foodblogs schaffen, denn er steht ganz in der Tradition derer, die das erste Toast Hawaii (Mitte der 50er Jahre) erlebt und mit Begeisterung den wachsenden Markt an Fertigprodukten, von denen ihre Mütter nur träumen konnten, gekostet haben. Konserven waren sie gewohnt, schließlich wurde bereits in ihrer Kindheit alles, was man an Lebensmitteln ergattern konnte, irgendwie haltbar gemacht. Man konnte ja nie wissen wie lange etwas verfügbar war. Lebensmittelverschwendung kannten sie nicht – aber das ist ein anderes Thema.
Vielleicht war mir dieser Wurstsalat jetzt so wichtig, weil die Generation der Kriegskinder, die uns nun nach und nach verlässt, in meinem aktuellen Buch eine zentrale Rolle spielt. Vielleicht hatte mich auch einfach die Sehnsucht nach ein bisschen Mama gepackt.
Natürlich habe ich nicht die Fleischwurst besorgen können, die meine Mutter gekauft hätte. Sie hatte ganz spezielle Anlaufstellen, wo man Fleisch und Wurst kaufte. Auch ihr bevorzugtes Gewürz ›Ideal‹ der Marke Fuchs habe ich nicht bekommen (gibt es aber noch). In dieser Hinsicht musste ich Zugeständnisse machen. Der Rest stellte kein Problem dar.
Für die Salatsoße das Glas Miracel Whip mit der gesamten Gurkenflüssigkeit verrühren und kräftig würzen. Sämtliche Zutaten dazugeben (Eier und Tomaten ganz zum Schluss), gut vermengen, abschmecken und ein paar Stunden ziehen lassen. Ich hatte ursprünglich die Petersilie vergessen, was aber unterm Strich keine große Rolle spielte. Denn beim ersten Versuchslöffelchen stellte sich heraus: schmeckt nach Mama.
Dazu passt ein (für mich jetzt nicht traditionsreiches) französisches Baguette. Am besten selbst gebacken. Hierfür empfehle ich die Originalrezeptur vom Blog französischkochen. Unbedingt an die Tipps (z.B. Mehl Type 65) halten, es lohnt sich.
Ich hatte das Glück, noch über ein Päckchen französisches Mehl zu verfügen. Wer es nicht bekommt, kann auf Type 550 ausweichen. Ein paar interessante Informationen zu den verschiedenen (französischen) Mehltypen gibt es übrigens bei Bäckerlatein.
Wer mich kennt und nun befürchtet, ich werde meinen Grundsätzen beim Kochen untreu, der sei beruhigt. In meiner Küche wird es auch weiterhin unverfälschte, zusatzstoff- und konservenfreie Gerichte mit viel frischem Gemüse geben.
Das Rezept von Mamas Wurstsalat ist für die Menschen meiner Generation (geboren in den 60er Jahren) gedacht, die sich gelegentlich nostalgischen Erinnerungen hingeben wollen. Und nein, ich werde es nie modernisieren. Es ist ein Teil vergangener Kochideale und untrennbar verbunden mit Mama und ihrer Generation, den Kriegskindern.
Um die Generation der Kriegskinder geht es auch im Buch Die Spuren der Kriegskinder - Sei tapfer im Leben, das im pinguletta Verlag erschienen und ab 01.12.2021 im Buchhandel erhältlich ist.
Und natürlich erfahren wir darin auch einiges über die kulinarischen Gegebenheiten ihrer Kindheit und Jugend, wie Bratlinge aus Eichelmehl, braune Kohlsuppe oder Schlagsahne aus Roggenmehl zum dunklen Tortenboden aus Schwarzbrot, Grieß und Malzkaffee und einer verdünnten Marmeladenfüllung als Highlight.